Ulrike Guggenberger, Gespräch mit Bernhard Lochmann, 4. Dezember 2013, in seinem Atelier

Bernhard Lochmann beginnt unser Gespräch mit der Feststellung : „Ich erlebe mich zuallererst als Graphiker“. Die Druckwerkstatt im Traklhaus in Salzburg ist der Ort, an dem sich der Künstler fast täglich aufhält.

In seinem Atelier entstehen seine persönlichen Arbeiten. Lochmann sammelt politische Bildteile aus Journalen mit Inhalten gesellschaftspolitischer Themen aus den 70er, 80er Jahren, z. B. von Paris Match, auch Schriftmodule aus Heften vom Flohmarkt und Vergleichbares. Im Durchblättern reagiert Lochmann auf Schlüsselreize.  

„Ich finde das reizvoll, die Tiefdruckverfahren, alte Techniken und die Ästhetik der 80er Jahre, die ganz andere Ästhetik, die Produktionsmethoden, die Inhalte.“ Und es fällt ihm auf, dass die Zeichnungen zu seinen Drucken von heute passen. Gerade die Zufallsfunde tun es ihm an, er erlebt sie als eine passende Erweiterung seiner eigenen Zeichnungen. Es entwickeln sich Collagen und klassische Zeichnungen gemeinsam auf einem Blatt. Zufällige Fotos aus Journalen korrespondieren mit seiner Zeichnung. Lochmann sucht sich die Fotos absichtlich sowie unabsichtlich aus, aber immer ergibt sich wie von selbst ein Bezug zu seinen Zeichnungen. „Es hat mit der Art meiner Zeichnung zu tun“, ist sich Lochmann sicher. Dazu gesellen sich ganz von selbst Techniken, Graffitti, Comic Manier, Karikatur und Groteske vergleichbar. Es passiert, dass Lochmann auf eine Reportage aus den 60er Jahren stößt und sie in eine bereits länger existierende Arbeit integriert.

Gesellschaftspolitische Themen sprechen ihn an. Etwa Regime-Ablösungen und damit Sturz und Fall bisheriger Standbilder und politischer Programme zugleich auch mit einem Umsturz bisheriger sozialer Strukturen. Veränderungen, die sich in den Gazetten widerspiegeln. Der Künstler hinterfragt unsere Verhaltensweisen und kommt zu dem Schluss, dass wir möglicherweise alles zu ernst nehmen: „Wir sind alle nur Menschen!“.

Lochmanns Bilder sind nicht bis ins Letzte auslotbar und exakt interpretierbar. Seine Arbeiten eröffnen dem Betrachter einen imaginären Deutungsraum mannigfacher politischer Botschaften.  

Die Blätter zitieren in ihrem Erscheinungsbild das Plakat-Format, verlangen aber vom Betrachter

Zeitaufwand und eine tiefer gehende Auseinandersetzung, Inhalte und Form betreffend: „Meine Bilder müssen so sein. Mich treiben innere Prozesse an, die schließlich zu diesen Bildern führen. Ich schau mir die Welt auf meine Weise an und kann auf mich vertrauen.“

Sperrige Bild-Elemente ergeben sich aus Lochmanns individueller bildnerischer Energie und seinem zeichnerischen Rhythmus. Über Serien und Werkzyklen lässt sich diese Arbeitsweise gut nachvollziehen. Stets drängt sich die zeichnerisch-graphische Linie vor, manchmal gebändigt, manchmal frei. Sein bildnerisches Werk präsentiert sich gleichzeitig abstrakt und gegenständlich.

Sich wiederholende Darstellungsmodi betreffen zB. Uniformen, Schriftsplitter, Füße, emotional aufgeladene Personen, Gegenstände mit Rädern, etwa einen Rollator, Fahrradteile, usw. Die Zeichen und Chiffren entstehen im Kopf: „Ich beobachte meine Umwelt und nehme sie gleichzeitig zeichnerisch wahr.“  Einem zerstörerischen Akt nicht unähnlich, realisiert er sein künstlerisches Werk im Herunterbrechen seiner Wahrnehmungen, gleichsam Ursubstanz für große, keineswegs logische Erzählungen. Es gilt, mit dem Bild ins Gespräch zu kommen, und - man erkennt einen Lochmann, man weiß nur nicht genau warum.

 

Lotte Dinse, Bernhard Lochmann "Trotz Umbau ungestörter Betrieb"

Die Installation Trotz Umbau ungestörter Betrieb von Bernhard Lochmann erinnert an eine raumgreifende Kartographie von Gegenständen, Ideen, Wahrnehmungen, Erfahrungen und Erinnerungen – eine Landkarte, auf der sich scheinbar niemand auskennt. Es ist, als stünde der Betrachter orientierungslos inmitten unerschlossener, nie gesehener Gebiete, die in ihrer Topographie gleichzeitig etwas Vertrautes und Bekanntes vermitteln. Um dieses Neuland zu erkunden, muss man sich bewegen, hoch- und hinabsteigen, nach rechts, mal nach links gehen, und sich dabei – wenn schon kein Kompass zur Hand – auf sein eigenes Gespür und auf seinen Erfahrungsschatz verlassen. Die Zeichnungen von Bernhard Lochmann fordern den Betrachter förmlich dazu heraus, seine individuellen Seh- und Empfindungsfähigkeiten einzubringen. Auch wenn die einzelnen Blätter Einblicke in die Gedanken – und Ideenwelt des Zeichners offenbaren, so verschließen sie sich in ihrer seriellen Komposition und der damit sichtbar werdenden Heterogenität einer eindeutigen Interpretation. Die Installation beruht auf einer Auswahl von 105 Zeichnungen, die Bernhard Lochmann während der letzten drei Jahren angefertigt und eigens für diese Ausstellung zusammengestellt hat.

In den gezeigten Blättern kombiniert Lochmann alltägliche Gegenstände wie Schuhe, Schneekugeln, Zylinder, Schlüssel und Schlösser, Haarspangen oder Lampen zu bizarren Stillleben und rätselhaften Objekten. Oder er thematisiert Momente des Gleichgewichthaltens, in denen die eigene Fortbewegung durch unterschiedliche Objekte wie Rollator, klumpenartige Plateauschuhe, Schwimmflügel, ein schwankendes Kreiselbrett unter den Füßen, einen vor das Gesicht gehaltenen Arm oder einen spitzen Frauenschuhabsatz auf der Stirn erleichtert oder eben erschwert wird. Ein wiederkehrendes Motiv sind kuriose Denkmäler und Statuen, die Lochmann mit Bildvorlagen in Form von ausgedruckten Fotos aus dem Internet kombiniert. Oder füllige, abgewandte männliche Körper, deren Tätigkeit lediglich angedeutet wird und die sich in nicht zuordenbaren Räumen, Interieurs und Landschaften abspielt.  Die unerklärlich wirkenden, kryptischen Szenen sowie das skurrile Aufeinandertreffen unterschiedlicher Gegenstände bleiben schwer rekonstruierbar.

Obwohl die serielle Anordnung der Zeichnungen auf den ersten Blick einen chronologisch angelegten Erzählfaden suggeriert, so stellt man bei genauem Betrachten fest, dass es sich um scheinbar zusammenhanglose Fragmente einer übergeordneten, abstrakten Erzählung handelt. Die Geschichte handelt immer auch vom Medium Zeichnung und dessen Möglichkeiten an sich.

Zeichnungen sind Ergebnis der subjektiven Auswahl, Betonung und Auslassung des Zeichners und somit „erfundene Wirklichkeit“[1]. Im stets Ausschnitthaften einer Zeichnung manifestiert sich die individuelle (Welt-) Sicht des Zeichners und paradoxerweise verleiht auch das Nichtgezeichnete der Zeichnung einen Sinn. Auch in Bernhard Lochmanns Arbeiten gibt es viele solcher Leerstellen, durch die einiges spekulativ bleiben muss und die zugleich Freiräume für eigene Assoziationen schaffen. Lochmanns Zeichnungen lesen sich wie komprimierte Kurzgeschichten, deren Offenheit den Betrachter zum individuellen Weiterdenken des Erzählten einlädt.

Die einzelnen Blätter vermitteln dabei nicht nur bestimmte thematische Anknüpfungspunkte, sondern sie offenbaren auch stets das handwerkliche Können, bestimmte Arbeitsweisen- und prozesse, Ausgangspunkte sowie verschiedene Zustände der Vollendung einer Zeichnung. Während manche Arbeiten wie flüchtig hingeworfene Skizzen oder spontane Notate wirken, deren Gültigkeit im Bruchstückhaften liegt, erweisen sich andere Zeichnungen als wohl kalkulierte, durchkomponierte Konstruktionen.

Ungeachtet der Unmittelbarkeit versprechenden, schlichten Art der Präsentation der uneingerahmten Blätter und trotz der zur Verfügung stehenden Hilfsmittel wie Leitern und Hocker, bleibt die Annäherung an Lochmanns Zeichnungen ein komplexes Unterfangen. Seine Arbeiten zeichnen sich inhaltlich wie formal durch eine große Bandbreite an Ausdrucksweisen aus und bewegen sich stets zwischen Fiktion und Wirklichkeit. Nicht selten führen sie den Betrachter auf unsicheres Terrain, wo sich die irritierende Frage stellt: gibt es jenen Gegenstand wirklich oder entspringt er der Fantasie des Zeichners? In ihrer unvertrauten Darstellung wirken allzu bekannte Alltagsgegenstände plötzlich grotesk, manchmal geradezu unheimlich, als könne man deren ursprünglichen Funktion nicht mehr vertrauen, als gäbe es eingebaute Dysfunktionalitäten, die dem Gegenstand einen neuen Zweck und Charakter verleihen. Manche Arrangements erinnern an angespültes, wie zufällig zusammengewürfeltes Treibgut, oder an Accessoires eines beliebigen Tages, andere wiederum lassen an Bilder von verlassenen Tatorten denken. Stets evozieren die dargestellten Szenen und Objekte ein Weiterdenken des zeitlichen Davor und Danach.

Zahlreiche Bildideen beruhen auf Beobachtungen im Alltag – einzelne Situationen und Szenen, die Lochmanns Aufmerksamkeit erregen und die er präzise studiert. Wäre Lochmann Fotograf, würde er diese Situationen schnappschussartig festhalten, um seine Interessen und Bildideen auszudrücken – und der Betrachter wüsste einigermaßen, woran er ist. Doch Lochmann ist Zeichner und bei ihm wird alles Gesehene, Aufgeschnappte oftmals nicht sofort zeichnerisch umgesetzt, sondern die Dinge durchlaufen eine weitere Stufe der Subjektivierung, indem er sie zunächst in seinem Kopf bewahrt, wo er sie um- und reinterpretiert, Details erfindet und weglässt und dann erst als Zeichnung in extrem verdichteter, konzentrierter Form zum Ausdruck bringt. Auf diesem doppelt subjektiven Boden kennt der Betrachter sich kaum mehr aus, hier vermischen sich Wiedergabe und Erfindung, Abstraktion und Gegenständlichkeit, Vollständigkeit und Reduziertheit. Genau darin liegen die große Anziehungskraft und die enorme Vielschichtigkeit von Lochmanns Zeichnungen.

Anlass zum Zeichnen ist das Sehen, das Aufnehmen von Informationen und Ereignissen, die unwillkürlich im Gedächtnis bleiben und die dort als Bilder ein Eigenleben entwickeln. Bernhard Lochmann zeichnet, was er sieht und auch das, was nicht zu sehen ist. Er illustriert seine eigene Innen- und Umwelt, er zeichnet drauf los, ohne Gewissheit, mit oder ohne Plan, aus der Erinnerung heraus, assoziativ und spontan, weil es sein muss. Jede Zeichnung die dabei entsteht, versteht sich als autonomes Kunstwerk, das noch Spuren seiner Entstehung und seines Gebrauchs trägt.

[1]Michel Sauer, Sprache der Zeichnung – Sockel für eine Bärenskulptur, in: Je mehr ich zeichne, Auss. Kat.  Museum für Gegenwartskunst Siegen , Köln 2010/11, S. 22